Aktuelle Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylrecht

Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat in zwei zentralen Urteilen vom 16.04.2025 (Griechenland) und 19.12.2024 (Italien) präzisiert, unter welchen Bedingungen Schutzberechtigte in EU-Mitgliedstaaten zurückgeführt werden dürfen:
- Griechenland-Urteil (1 C 3.24):
Nichtvulnerable, arbeitsfähige Alleinstehende müssen bei Rückkehr keine unmenschlichen Lebensbedingungen befürchten. Asylanträge können gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG abgelehnt werden[1][2]. - Italien-Urteil (1 C 3.24):
Auch alleinerziehende Elternteile mit Grundschulkind und Kind unter drei Jahren gelten nicht automatisch als vulnerabel. Das Gericht sieht in Italien ausreichende Grundversorgung durch staatliche und nichtstaatliche Stellen, selbst bei bürokratischen Hürden[1][2].
Zumutbarkeit von Arbeit in der Schattenwirtschaft
Das BVerwG hat in obiter dicta klargestellt, dass die Aufnahme illegaler Tätigkeiten in Ländern mit ausgeprägter Schattenwirtschaft (z. B. Griechenland oder Italien) zur Existenzsicherung herangezogen werden kann, wenn:
- Die Schattenwirtschaft einen signifikanten Teil der Ökonomie ausmacht.
- Die Ausübung solcher Tätigkeiten nicht effektiv verfolgt wird[3].
Beispiel: In Griechenland arbeiten rund 30% der Erwerbstätigen in informellen Sektoren wie Tourismus oder Landwirtschaft. Dies ermöglicht Schutzberechtigten, elementare Bedürfnisse zu decken, selbst ohne formale Arbeitserlaubnis[3].
Vulnerabilität bei Alleinerziehenden
Das Gericht differenziert bei der Einstufung als vulnerable Person:
- Keine pauschale Zuordnung: Alleinerziehende mit Kindern gehören nicht automatisch zum vulnerablen Personenkreis, sofern sie gesund und arbeitsfähig sind[1][2].
- Ausnahmen gelten bei:
- Schweren Erkrankungen oder Behinderungen
- Traumata durch Gewalterfahrungen
- Fehlen jeglicher familiärer Unterstützungsnetze
Fallbeispiel: Eine alleinerziehende, gesunde Mutter mit zwei Kindern (3 und 7 Jahre) wurde im Italien-Urteil nicht als vulnerabel eingestuft, da Italien Notunterkünfte und Grundversorgung bereitstellt[2].
EXKURS
Anforderungen an ärztliche Atteste im Asylverfahren – insbesondere bei psychischen Erkrankungen
Ärztliche Atteste spielen im Asyl- und Aufenthaltsverfahren eine zentrale Rolle, wenn gesundheitliche Gründe – insbesondere psychische Erkrankungen – als Abschiebungshindernis geltend gemacht werden. Die gesetzlichen Anforderungen an solche Atteste sind in den letzten Jahren deutlich verschärft worden. Einfache Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen oder kurze Atteste genügen grundsätzlich nicht.
Formale und inhaltliche Anforderungen
Ein qualifiziertes ärztliches Attest muss folgende Angaben enthalten:
- Die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage die Diagnose gestellt wurde (z.B. Anamnese, Gespräche, Untersuchungen)
- Die Methode der Tatsachenerhebung (z.B. Einsatz von Dolmetschern, psychologische Testverfahren, fachmedizinische Untersuchungen)
- Die konkrete Diagnose mit Angabe nach ICD-10 (internationale Klassifikation von Krankheiten) und den Schweregrad der Erkrankung
- Die Symptomatik und die daraus resultierenden Einschränkungen (z.B. Belastbarkeit, Fähigkeit zur Selbstversorgung)
- Die notwendige Behandlung und ggf. Medikation (mit Wirkstoffbezeichnung)
- Die medizinischen Folgen, wenn die Behandlung oder Medikation unterbleibt
- Eine ärztliche Einschätzung, ob durch Abschiebung oder Zwangsmaßnahmen eine wesentliche oder lebensbedrohliche Gesundheitsverschlechterung droht.
Besondere Anforderungen bei psychischen Erkrankungen
Gerade bei psychischen Erkrankungen – wie etwa einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) – verlangen Behörden und Gerichte eine besonders sorgfältige und nachvollziehbare Darstellung:
- Es sollte benannt werden, welches Ereignis (sofern bekannt) die Erkrankung ausgelöst hat. Eine detaillierte Beschreibung ist nicht zwingend, aber die Auslöser sollten zumindest umrissen werden3.
- Aus dem Attest muss hervorgehen, auf welcher fachlichen Grundlage die Diagnose gestellt wurde (z.B. standardisierte Testverfahren, klinische Interviews).
- Falls bestimmte Auslöser für eine Verschlechterung der Erkrankung bekannt sind (z.B. Konfrontation mit bestimmten Situationen im Zielstaat), sollten diese benannt werden.
- Bei psychischen Erkrankungen reicht seit 2019 ein Attest von Psychologischen Psychotherapeut*innen allein meist nicht mehr aus; das Attest muss von einem Arzt oder einer Ärztin mitunterzeichnet werden, um anerkannt zu werden.
Hinweise zur Praxis
Die Anforderungen sind hoch: Nur umfassende, fachlich fundierte und individuell begründete Atteste werden von den Behörden anerkannt. Standardisierte oder formelhafte Atteste, die keine individuelle Begutachtung erkennen lassen, werden regelmäßig abgelehnt. Besonders im Bereich psychischer Erkrankungen ist die Zusammenarbeit mit spezialisierten Fachärztinnen und Fachärzten oder Psychotherapeut*innen dringend zu empfehlen.
Tipp: Lassen Sie Atteste frühzeitig und nach den genannten Kriterien erstellen, um Ihre Rechte im Asylverfahren bestmöglich zu sichern. Bei Unsicherheiten unterstützen wir Sie gerne bei der Kommunikation mit behandelnden Ärztinnen und Ärzten.
Praktische Implikationen für Asylverfahren
- Nichtvulnerable Personen: Schnellere Verfahren durch pauschale Unzulässigkeitsentscheidungen.
- Vulnerabilitätsprüfung: Erfordert detaillierte Darlegung individueller Schutzbedürftigkeit (z. B. medizinische Gutachten).
- Schattenwirtschaft: Behörden dürfen bei der Prognose zur Existenzsicherung informelle Erwerbsmöglichkeiten berücksichtigen[3].
Bedeutung für Betroffene und Handlungsempfehlung
Die aktuelle Rechtsprechung des BVerwG hat erhebliche Auswirkungen auf viele Schutzberechtigte in Deutschland. Besonders betroffen sind Personen, denen bereits in Italien oder Griechenland Schutz gewährt wurde und die nun mit einer Rückführung rechnen müssen. Für diese Menschen ist es entscheidend, ihre individuelle Situation genau zu analysieren und frühzeitig zu handeln.
Neben der Prüfung, ob tatsächlich eine Rückführung droht, sollten Betroffene auch andere aufenthaltsrechtliche Möglichkeiten in Betracht ziehen. Dazu zählen etwa Anträge auf humanitäre Aufenthaltstitel, Härtefallregelungen, familiäre Bindungen oder Integrationsleistungen wie Ausbildung und Beschäftigung. Auch der Nachweis besonderer Integrationsleistungen oder eine nachhaltige Verwurzelung in Deutschland können im Einzelfall zu einem Bleiberecht führen.
Sie benötigen Unterstützung bei der Einordnung von Schutzstatus oder Vulnerabilität?
Unser Team bietet individuelle Beratung zur strategischen Vertretung in Asyl- und Rückführungsverfahren – kontaktieren Sie uns für eine Fallanalyse.
Frühzeitige Prüfung von Bleibestrategien ist entscheidend
Gerade angesichts der aktuellen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist es für Betroffene besonders wichtig, frühzeitig individuelle Bleibestrategien zu prüfen. Oft bestehen – je nach Lebenssituation und Aufenthaltsdauer – verschiedene rechtliche Möglichkeiten, die einen dauerhaften Aufenthalt in Deutschland sichern können, etwa durch humanitäre Aufenthaltstitel, Ausbildungs- oder Beschäftigungsduldung oder familiäre Bindungen.
Unser Rat: Warten Sie nicht, bis eine Rückführung konkret droht. Lassen Sie sich rechtzeitig von spezialisierten Anwältinnen und Anwälten beraten, um alle Optionen optimal auszuschöpfen und Ihre Chancen auf ein Bleiberecht zu erhöhen.
Vereinbaren Sie gerne einen Termin für eine individuelle Beratung – wir unterstützen Sie kompetent bei der Entwicklung und Umsetzung Ihrer persönlichen Bleibestrategie.
Hinweis: Dieser Beitrag ersetzt keine Rechtsberatung. Stand: April 2025.